Stehr, Hermann: Droben Gnade Drunten Recht. 1952 by Hermann Stehr

Stehr, Hermann: Droben Gnade Drunten Recht. 1952 by Hermann Stehr

Autor:Hermann Stehr [Stehr, Hermann]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Europäischer Buchklub


Sechzehntes Kapitel

Den ganzen Winter über versuchte es Jochen Maechler nur einigemal, der Innenverdämmerung seines Wesens durch eine Fluchtreise auf den Wilkauer Feldern zu entfliehen, mußte es aber immer nach einigen hundert Schritten aufgeben, da er bis an den Beinschluß in den Schneemassen versank und Mühe hatte, sich in seinen eigenen Stapfen nach Wilkau zurückzuarbeiten.

Einst gegen das Ende des Winters, da der harsche Geselle sich kaum mehr des Gesummes der warmen Winde erwehren konnte, die ihn aus allen Gegenden umspielten, kam Jochen um den Abend herum wieder einmal vom Felde herein. Sein Spaziergang war trotz des Wetterwechsels, der doch fühlbar in der Luft hing, nichts als fast nur ein Schneetreten gewesen, das ihn nicht vorwärts brachte. Dazu steckte ihm der nahende Frühling dergestalt in den Knochen, daß es ihm war, als sei sein ganzer Körper mit Steinen vollgepackt. Das Gehen wurde ihm schwer, denn die Beine schienen richtig in allen Gelenken eingerostet zu sein, daß er Mühe hatte, sie zu bewegen. Im tiefen Schlummern traf er endlich in Wilkau ein, wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete erlöst auf, als er die feste Straße unter den Füßen fühlte. Allein, es war wie vernagelt, an ein forsches Vorwärtskommen war auch hier nicht zu denken. Sein Gehwerk gehorchte ihm sehr widerwillig, und wenn er es dennoch in seine Gewalt bekommen wollte, wurde ihm schwindlig, daß er sich sogar des Taumelns nicht ganz erwehren konnte. Deswegen bog er, um nicht in diesem Zustande über den Schloßplatz zu müssen, an der katholischen Kirche ab, um über die Gansertbrücke und zwischen den Gärten in sein Haus zu gelangen. Aber am Langen Hause ging es gar nicht mehr, und wohl oder übel blieb ihm nichts übrig, als sich auf den Stufen niederzusetzen, die zum Langen Hause emporführten. Die wenigen Menschen, die vorübergingen, stutzten wohl, als sie den Meister auf der Treppe hocken sahen, redeten ihn aber nicht an, weil sie wußten, daß sie von dem einirdisch gewordenen Manne doch keine Antwort erhalten würden. So gab sich der Gerber ungestört dem Genuß seiner seltsamen, unerwarteten Müdigkeit hin. Gemach ließ das Summen in seinen Gliedern nach, und eine Gelöstheit kam über ihn, in der etwas Geheimnisvolles war, wie der lautlose, ungehörte Schritt des nahenden Schlafes. Der verwandelte sich bald in ein wehendes Gehen im Innern des Langen Hauses, das eine Treppe niederstieg und, über einen kurzen Flur herkam. Dann ging die Tür auf. Aber zwischen dem Auf- und Einschwung ertönte von drinnen der Ruf: »Sessi!« So bänglich liebevoll und warnend, daß der Gerber bis in seine Seele erschrak. Aber, ehe er sich von dieser Erschütterung erholen konnte, fühlte er das Streichen der Kleider einer hohen Mädchengestalt neben sich vorüberwallen und hatte die Empfindung, als fahre ihm eine Hand hauchleise, begütigend über den Kopf.

Da sprang der Gerber auf die Füße und sah sich um. Aber Treppe und Straße waren leer bis auf eine alte Frau, die gebeugt, vor sich hinstarrend, an dem Meister vorüberging, ohne nach ihm hinzusehen. Er faßte sie an der Achsel.

»He, haben Sie nicht eben jemand hier aus dem Langen Hause kommen sehen?« fragte er leise.



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